Susanne’s Adventskalender Challenge – 2. Dezember 2022

Agent Socke

Hart setzte die Maschine am Flughafen in Taschkent/Usbekistan auf. Der Mann in der Business Class, Sitzplatz 13, wartete bis das Flugzeug leer war; dann nahm er seine Aktentasche  und verließ die Maschine über die dafür vorgesehene Treppe. Der Zoll war wenig  an der sich in der Aktentasche befindlichen umfangreichen Liste interessiert und auch die Passkontrolle verlief wie erwartet problemlos.

Vor dem Flughafen wartete wie vereinbart eine vollklimatisierte Limousine, die ihn das 5Sterne Hotel  Blume der Wüste brachte. Dort sollte er den Agenten treffen, Erkennungszeichen schwarze Lackstiefel. Er betrat die großräumige Halle des Hotels und sah den V-Mann, dessen Lackstiefel so stark glänzten, dass man davon geblendet wurde,  an einem der eleganten, aber nutzlosen Tischchen sitzen. Der Mann blickte den Agenten an und fragte mit verhaltener Stimme „der Koffer?“.  Der Agent legte einen dunkelbraunen Schweinslederkoffer auf die Bartheke und öffnete ihn. Der Mann warf einen Blick hinein und nickte. Er schloss den Koffer wieder. Dann griff er in seine aus feiner Kaschmirwolle gewebte rechte Manteltasche und nahm die mit einem Schalldämpfer versehene russische Pistole Marke Makarow Kaliber 9 x 8 mm heraus. Wortlos setzte er sie dem Agenten auf die Brust und drückte ab. Der Getroffene kippte vornüber, rasch griff der Mann zu und setzte den Agenten, gestützt von einem Kissen, wieder aufrecht hin. Den Kopf ließ er behutsam auf die Brust sinken, damit es so aussah, als ob das Opfer schliefe. Er nahm den Schweinslederkoffer an sich, grüßte die hübsche Rezeptionistin freundlich lächelnd und verließ das Hotel durch den imposanten Eingang. Draußen stieg er in die wartende Limousine.

Zwei Stunden später saß er im Flugzeug, Business Class und wie immer, da er abergläubisch war, auf dem Sitzplatz 13. Wieder hatte es keinerlei Probleme mit dem Zoll oder seinem übrigens sehr gut gefälschten Pass gegeben. Sein iPhone summte; der Mann sagte „Hallo Chef, alles paletti. Wir haben die Liste. Nein, der Agent wird uns nicht erpressen, 100 pro!  Na ja Chef, ich habe mich mit ihm getroffen weil er uns erpressen wollte; er hat es darauf angelegt. Denken Sie daran, wieviel Gutes wir tun können,  jetzt, nachdem wir die Liste haben. Ich bin in Kürze bei Ihnen im Büro, alles weitere dann! Tschau, Tschau.

Der Mann öffnete den Schweinslederkoffer. Fast feierlich nahm er die beeindruckend umfangreiche Liste aus dem Koffer und fing an sie durchzublättern. Die Liste enthielt die Aufenthaltsorte sämtlicher einzelner Socken, die es auf der Erde gab.  Die in seiner Aktentasche befindliche Liste wiederum enthielt die Aufenthaltsorte sämtlicher zugehöriger und passender Gegenstücke zu den einzelnen Socken! Der Computer musste nur die in den Listen aufgeführten Socken matchen – und alle Sockenpaare waren wieder vereint! Was für ein grandioser Plan! Der Mann atmete schwer. Es war sehr wichtig gewesen, diesem mysteriösen und immer noch unerforschten Sockenverschwinden Einhalt zu gebieten. Eine Heidenarbeit, diese Listen zu erstellen, die ganze Welt hatte er dafür bereist. Und nicht ungefährlich, das Ganze. Nun war alles gut.

Er lehnte sich entspannt in seinen Sitz zurück und schloss die Augen und schlief ein. Er wachte auf am heftigen ruckeln der Maschine. Nur ein paar Turbulenzen, dachte der Mann, kein Grund zur Panik. Das ruckeln wurde stärker und das bitte-anschnallen-Zeichen leuchtete rot. Die Maschine zitterte immer mehr, die Stewardessen rannten aufgeregt den Gang hin und her. Die Passagiere wurden zunehmend zuerst unruhig und später hysterisch. Das Flugzeug sackte immer wieder ab, aus der Gepäckaufbewahrung fielen Taschen und Mäntel herunter. Und dann zeigte der vordere Teil des Flugzeugs steil nach unten. Der Mann versuchte sich am Sitz vor ihm festzuklammern. Er sah, wie seine Aktentasche und der Schweinslederkoffer den Flur hinunterrutschten; die Aktentasche war an einem Ende ein kleines Stück aufgegangen und ein paar einzelne Blätter wirbelten durch die Maschine. Sein letzter Gedanke war:  meine Listen, ich muss  meine Listen retten, was wird sonst aus all den einsamen Socken werden??

Und dann war alles vorbei.

 

Epilog

Es war ein sonniger und warmer Tag am Kaspischen Meer. Und ein guter Tag für ein paar Fischer, die genug Fische gefangen hatten,  um die Familie für die nächste Zeit zu ernähren.  Und heute brachten sie noch eine Überraschung mit in ihr von der restlichen Welt weit entferntes Dorf  – einen braunen Koffer, der ziemlich aufgeweicht und aufgequollen war und eine desolat aussehende schwarze Aktentasche. Die Schlösser waren verbogen, ein Angelhaken half die Gegenstände zu öffnen. Im Innern des Koffers und der Tasche lagen dicke Listen aus Papier, so blütenweiß wie sie dort noch niemand gesehen hatte. Die Blätter hatten Schriftzeichen aufgedruckt, die niemand lesen konnte. Aber das war nicht wichtig, denn das Papier war so wunderbar weiß. Sie legten es überall hin, auf die Schränke und den Boden, das Papier wurde schmutzig und gelb und niemand beachtete es mehr. Auch die Wörter wurden mit der Zeit unlesbar.

Niemand fand jemals  heraus, was die Schriftzeichen auf den Blättern bedeuteten. Und das, denke ich, ist der Grund warum  es immer noch einzelne Socken gibt.

S.B. 2022

Comments

  • Karin
    REPLY

    Mit der Erklärung hätte ich nun wirklich nicht gerechnet 😁🧦 cool!

    3. Dezember 2022

Leave a comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *